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Mit Zeichen Zeichen setzen

Der bildende Künstler Michael Endlicher ist ein Spieler inmitten des Universums der Zeichen und ihren formalen Variationen, inhaltlichen Interpretationen und neugeschaffenen Kompositionen. Sein künstlerisches Schaffen steht ganz im Zeichen der Zeichen.
Zeichen haben bei ihm leichtes Spiel und zugleich schwerwiegende Bedeutung. Er nähert sich ihnen auf leisen Sohlen, ein anderes Mal mit großer Geste. Er bewegt sich virtuos zwischen ihren Arten, Aspekten und Funktionen, überschreitet Grenzen und durchmisst die gesamte Klaviatur nach sämtlichen Ton- und Spielarten vom Einzelzeichen bis hin zur Dimension gesellschaftlicher Stereotype.

Wir alle leben in einer Welt von Zeichen. Zeichen prägen unser Leben und Denken. Sie sind uns im Umgang so omnipräsent und selbstverständlich, dass wir ihnen kaum direkte Beachtung schenken. Ganz anders Michael Endlicher. In seinem vielschichtigen künstlerischen Kosmos stehen die Zeichen im Mittelpunkt, er führt sie uns vor Augen und „zeichnet“ ein Bild ihrer Varietäten und Wirkmächtigkeit.

Um Endlichers Wanderungen und Wandlungen im Reich der Zeichen einordnen und nachvollziehen zu können, bedarf es eines rudimentären Crash-Kurses in die Wissenschaft vom Zeichen, die Semiotik.
1. Grundlegendstes Merkmal eines Zeichens ist seine „Stellvertreter-Funktion“. Von einem Zeichen ist demnach dann zu sprechen, wenn „etwas“ für „etwas anderes“ steht. Folgerichtig macht ein Zeichen etwas präsent, ohne selbst dieses Etwas zu sein. Die Zeichenform B-a-u-m ist nicht der Baum selbst, macht diesen aber gedanklich verfügbar, ohne dass er physisch anwesend ist. Eine außerordentliche Funktion von Zeichen, mithilfe derer wir die Welt begreifen können.
2. In einem phonetischen Alphabet ist das einfachste Zeichen ein Buchstabe, der einen bestimmten Laut kodifiziert. Der Zusammenhang von grafischer Buchstabenform und dessen zugeteiltem Laut ist dabei willkürlich und folgt allein der Konvention. Theoretisch könnte jede Form auch mit einem anderen Laut assoziiert werden.
3. Ein Wort ist wiederum ein komplexes Zeichen aus einzelnen Buchstaben. Sprachwissenschaftlich spricht man von einem „symbolischen Zeichen“. Seine Zeichenform symbolisiert einen bestimmten Zeicheninhalt. Auch diese Verbindung ist willkürlich und beruht auf Konvention. Die Lautfolge T-i-s-c-h weist keinerlei bildhaften oder wesenhaften Bezug zur Gestalt des Möbels oder seiner Verwendung auf.
4. Zeichenform (Signifikant) und dazugehöriger Zeicheninhalt (Signifikat) werden gelernt. Sie sind nur vor dem Hintergrund eines Zeichenbenutzers denkbar, der die Relation zwischen ihnen herstellt. Konkrete, weiterführende Assoziationen sind somit das Ergebnis der Interpretation des Zeichenbenutzers.

Den Umgang mit diesen grundlegenden Funktionsweisen und Verbindungen erlernen wir von Kindesbeinen an und beherrschen ihn schließlich nicht nur, sondern haben ihn vielmehr so ganz und gar verinnerlicht, dass er zur Matrix unseres Denkens geworden ist.
In der alltäglich operativen Anwendung zur Kommunikation und der Verfügung über die Welt mittels Zeichen erscheint es uns, als wäre die funktionale Verbindung zwischen Signifikanten und Signifikat eine — auch in seiner ästhetischen Form — natürliche und nicht konstruierte oder noch weniger willkürliche Konventionierung. Das führt stillschweigend dazu, dass wir geradezu automatisch jedes Zeichen interpretieren und seinen Inhalt zu entziffern suchen. Wir erwarten, dass jedes Zeichen für „etwas anderes“ steht.

Diesbezüglich erweitert noch eine zusätzliche semiotische Besonderheit den Raum für Michael Endlichers scharfsinnig-subtiles Spiel mit Erwartungen, willkürlichen Konventionen und Formen sowie der Dekonstruktion und Neuschaffung von Zeichen und Zeicheninhalten: Das Kunstwerk. Dieses ist nämlich in seiner Funktionalität ein spezielles Zeichen, das sich per se bereits dem gewohnten Umgang entzieht. Genauer: Signifikant und Signifikat sind weitgehend deckungsident. Das Kunstwerk bezeichnet in konstituierendem Maße sich selbst. Es verweist auf sich selbst. Es ist sich selbst Inhalt und steht nicht bloß für etwas anderes. Es befreit sich aus seiner Stellvertreter-Funktion, um sich andere kommunikative Ebenen und andere Bedeutungsdimensionen zu erschließen und diese zugänglich zu machen. 

Das macht das Zeichen als Sujet zu einem nahezu perfide-lustvollen und insbesondere tiefsinnig-künstlerischen Unterfangen, das zwischen semiotischen Welten, Funktionen und Konventionen oszilliert.
In seiner Arbeit stellt Michael Endlicher unseren Umgang mit Zeichen konsequent in Frage, während er sich selbst derselben Zeichen bedient. 
Er setzt mit Zeichen Zeichen. Künstlerische Zeichen.

Die kleinste Einheit dieser künstlerischen Zeichen bilden seine Buchstabenbilder – einzelne Buchstaben einer festgelegten Schriftart, die er in Mischtechnik auf Leinwände im Format 50×40 Zentimeter malerisch darstellt. Auf einen ersten, oberflächlichen Blick scheinen diese eben das zu sein, was ihr Titel suggeriert. Man muss sich ihnen stellen, um sich ihre Tiefenschichten zu erschließen. Erst dann durchdringt man deren vordergründige Wiedererkennung als Buchstabe und erkennt diesen als selbstständiges, graphisch-ästhetisches Gebilde. Man begreift seine Form als gestaltendes Element eines Kunstwerks, so wie es jedes andere abstrakte Bildelement auch tut, und erfasst das Zeichen als künstlerisches Zeichen. Ausschlaggebend für diesen „Wahrnehmungs-Sprung“ ist nicht zuletzt ihre malerische Umsetzung, die Endlicher ganz bewusst einsetzt und dadurch jedes einzelne Bild – gerade auch dann, wenn es sich um dieselbe Buchstabenform handelt – zu einem individuellen, autonomen Werk macht.

Es ist dieses Wechselspiel mit Konventionen und deren Brüchen, das Michael Endlichers Werke in Vexierbilder verwandelt, die kontinuierlich zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen changieren und immer komplexere Formen annehmen. Denn freilich lassen sich seine Buchstabenbilder wiederum zu größeren Einheiten, Wörtern und Sätzen zusammenfügen und deren „mehrdeutige Lesbarkeit“ damit auf eine höhere Ebene transponieren.

Das „Colour Field Painting 1“ ist neben vielen anderen Wortbildern* ein repräsentatives Beispiel für diese nächste „Ausbaustufe“ seiner Buchstabenbilder – bestehend aus den Buchstabenfolgen BLUE/PINK/GREY/GOLD, die, übereinandergesetzt, ein Werk bilden. Auf konventionell-funktionaler Ebene stehen die einzelnen Begriffe symbolisch „für etwas anderes“. Für Farbtöne, die allerdings weitab von ihren Zeichen nur in unserer Vorstellung existieren, während die „Wörter“ als formale Zusammenstellung individueller Zeichenbilder, als autonome Malereien und künstlerische Zeichen auf sich selbst verweisen.

Noch komplexer äußert sich Endlichers künstlerische Strategie in seinen Satzbildern*, für die er seine Buchstabenbilder zu aphoristischen, teils kryptisch anmutenden Aussagen, Fragen, anspielungsreichen Fragmenten sowie ganzen Texten verknüpft. Ein immer wiederkehrendes Element ist dabei die abstandslose Aneinanderreihung von Buchstabenbildern ohne Rücksicht auf korrekte Silbentrennung, wodurch er gezielt die Lesbarkeit unterbricht und scheinbar neue, noch nicht konventionalisierte Zeichenfolgen und Wörter kreiert.

Darüber hinaus hintertreibt er die Lesbarkeit mit installativen Präsentationsvarianten, die mit gewohnten Formaten und Kontexten brechen, indem er Türme aus seinen Bildern baut, Kartenhäuser oder kreisförmig angeordnete Panoptiken, die zudem die physische Präsenz des Zeichenbenutzers miteinbeziehen.

Auf diese Weise nähert er sich schrittweise immer weiter dem Zeichen als Kunstwerk und gelangt auf dem Weg über seine numerologischen Dramenbleche, seine literarischen Litaneien oder Videoarbeiten – um stichpunktartig weitere Stationen zu nennen – zu seinen Signs. Bei ihnen rückt das malerische Element entschieden in den Vordergrund, wodurch sie sich immer mehr von ihren Ursprüngen lösen. Sie entwickeln sich zu neugeschaffenen, eigenständigen Zeichen, die sich kompositorisch aus einer Vielzahl von formalen Vorlagen – Buchstaben, Zahlen sowie orthographischen Markern – oder deren Bruchstücken zusammensetzen. Dabei erobern sie sich völlig neue Dimensionen, indem sie geradezu beispielhaft, allein auf sich selbst verweisen und für nichts anderes als für ihr selbst geschaffenes Signifikat stehen. Sie entfalten ein Eigenleben, werden zu Lebewesen und zu Charakteren mit narrativen Hintergründen, die man scheinbar wiedererkennt und zu lesen vermag, sich letztendlich aber dennoch eines habhaften Zugriffs zugunsten des Kunstwerks entziehen. 

*Eine vom Autor zur einfacheren Differenzierung im Text eingeführte Terminologie. Der Künstler selbst spricht konsequenterweise durchgängig von „Buchstabenbildern“.

IN THROUGH THE BACK DOOR

Wer mit der Tür ins Haus fällt, kommt ohne Umschweife zur Sache. Straight forward, immer geradeaus. Warum sich mit ungewöhnlichen Zugängen aufhalten, wenn man auch durch die Vordertüre gehen kann? Alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch klar sagen, oder?

Als Samuel Beckett gefragt wurde, worum es denn nun in seinem Stück „Warten auf Godot“ gehe, antwortete er :“Wenn ich es anders hätte sagen können, hätte ich es getan“. Ob sich diese Anekdote nun wirklich so zugetragen hat oder nicht – sie zeigt auf, dass vielschichtige Bedeutungen eben vielschichtig sein müssen, wenn sie ihre Bedeutung nicht verlieren wollen. Oder wie es Umberto Eco so schön auf den Punkt brachte: „Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung, und die ist falsch“

Ohne Zwischentöne und Schattierungen fehlen eben die nötigen und notwendigen Nuancen, so wie ein Ton ohne dessen Obertöne zur eindimensionalen, toten Frequenz ohne Klangfarbe zerfällt. 
Wo das Grobe durch die Vordertür einfällt und den Raum für sich einnimmt, fehlt zwangsläufig der Platz zur Entfaltung subtilerer Stimmen.

Die Zeiten sind grob geworden. Und wo einst Zwischentöne Gehör fanden und als Korrektiv Vielschichtigkeit garantierten, verkommt der Diskurs zunehmend zu einem plakativen, ja, geradezu existenziellen Schlagabtausch ums Überleben in einer Gegenwart, die scheinbar nicht mehr vermag, Sinn, Gemeinsinn und Gesellschaft, Identität, Diversität und übergeordnete Ideale für eine friedliche Zukunft zu stiften. Und so muss der dröhnende Kampf „für die gute Sache“ – was auch immer dafür gehalten wird – selbst als Sinn herhalten. 

Sinn aber wird mit feiner Klinge geschnitzt und nicht mit der Axt.
Komplexe Sachverhalte bedürfen einer komplexen und besonnenen Auseinandersetzung.
Substanzielle Bedeutungen sind nie die Summe einfacher Antworten, sondern differenzierter Fragen, die nach Antworten suchen. 
Sie kommen nicht polternd durch die Vordertüre, sondern gehen unkonventionellere Wege, um sich Zugang und Gehör zu (ver-)schaffen.
Ihre Stimmen dürfen nicht übertönt, sondern müssen gehört werden.

Und genau diesen Stimmen eine Stimme zu geben, will das Jahresthema des sehsaal 2026 sein.
Dazu sollen ganz gezielt künstlerische Positionen ausgewählt werden, die in der aufgeheizten Atmosphäre der Gegenwart, Kunst nicht bloß als oberflächliches Mittel politischer Agitation instrumentalisieren, sondern durch die Hintertüre kommen und mit künstlerischem Feingefühl, mit leiser Ironie, tiefsinnigem Ernst sowie substanzieller Qualität unserer Welt begegnen und subtil die Vielschichtigkeit der Zwischentöne zum Klingen bringen.

Die Wiederholung ist die Wiederholung der Wiederholung

Durch Wiederholung lernen wir. Durch sie internalisieren wir physische wie psychische, mentale, gesellschaftliche und spirituelle Vorgänge, um sie auf eine höhere Bedeutungsebene zu transponieren.

Ob alltägliches oder kultisches Ritual, ob liebgewonnene Marotte oder krankhafter Zwang, willkommene Abwechslung oder verhasster Trott, Ausdruck gesellschaftlicher Freiheit oder Norm: Wiederholungen sind formalisierte Handlungen mit vielschichtigen Funktionen, die Ordnung und Struktur und Kunst schaffen.

Wiederholungsformen und Wiederholungsformeln schaffen Orientierung, Struktur und verleihen dem Leben, dem Raum, der Kunst den Rhythmus und den flow einer Tiefenstruktur, die Sinn zu schaffen vermag und Sicherheit – gerade in Zeiten erodierender Grundfeste. 

Für die Kunst jeglicher Genres ist und war die Wiederholung immer schon grundlegende Praxis und in vielen Fällen das tragende oder schlichtweg konstituierende Element des künstlerischen Ausdrucks unterschiedlich starker Ausprägungen. 

Die Schichtung als schöpferisches Prinzip im Werk von Ingrid Tragler

Eine abstrakte helle Form, die an eine noch unentdeckte Fischart der Tiefsee erinnern könnte und sich mittels weißer Adern selbst zu verbinden scheint, legt sich über Schichten, Farbflächen und teilweise wie Schatten anmutende Strukturen im Hintergrund, die sie dennoch nicht gänzlich abdeckt, sondern geheimnisvoll durchschimmern und erahnen lässt. Sie selbst wiederum wird dabei von einer roten, sich teilweise verästelnden Linie ähnlich einem einfachen Blutkreislauf durchzogen, der sie zwar ihrerseits überlagert, zugleich aber vermag, den Hintergrund in den Vordergrund zu rücken und einen neuen, in die Tiefe weisenden Fokus zu setzen.

Es ist ein Wechselspiel von Leere und Fülle abstrakter aber dennoch reich assoziativer Formen und Flächen und von zugleich dynamischen wie erstarrten Gesten, die Ingrid Tragler zu höchst eigenständigen und – in der ursprünglichsten Bedeutung des Adjektivs – kunst-vollen Kompositionen schichtet und mit den frei experimentellen Mitteln des Siebdrucks zu ausdrucksvollen Werkblöcken formt.

Technik als Mittel zum Selbstzweck

Bekannterweise ist der Siebdruck ursprünglich ein Schablonen-Druckverfahren und als solches per se ein rein technischer Produktionsvorgang. 

Betrachtet man jedoch die Arbeiten von Ingrid Tragler, wird offensichtlich, dass es sich hier vielmehr um einen originär künstlerischen Ausdruck handelt, der sich des Siebdrucks bedient, um diesen hinsichtlich seines gesamten gestalterischen Potenzials auszuschöpfen. Und um Bildwerke zu schaffen, die sich aus einer erweiterten und insbesondere künstlerisch kompositorischen Sicht als seismografische Bildproduktionen erweisen, die deutlich vielschichtiger sind.

Vielschichtigkeit als mediale Transformation

Für ihre neuesten Werkblöcke verwendet Tragler digitale Grafikprogramme als Medium der ästhetischen Transformation.

Nicht analoge Zeichnungen, sondern im Computer generierte Vorlagen dienen der späteren Gestaltung und Übertragung in den Siebdruck. Präziser formuliert handelt es sich dabei um Digitalisierungen analoger, gestisch-rudimentärer wie dynamisch-expressiver Zeichenvorgänge, die sie mit der Computermaus ausführt, um eine bewusst unperfekte, kantig-gepixelte digitale Optik und Ästhetik zu erzielen.

Es findet also eine vielschichtige Transformation und Verstärkung vom Analogen ins Digitale und zurück in die technische Analogie des Druckverfahrens statt.

Vielschichtigkeit als technisch-kompositorische Methode

Die Grundstrukturen ihrer aktuellen Arbeiten bestehen aus in digitale Raster umgewandelten Detailansichten von rostigem Metall oder Ähnlichem, die sie als Fläche auf Baumwollleinen gedruckt in den Hintergrund legt und die dabei trotz ihrer digitalen Optik organische Strukturen hervorrufen.

Anschließend folgt sie weiter der Methode der Vielschichtigkeit, indem sie jedem der genannten Zeichenvorgänge eine bestimmte Farbe zuteilt und im Anschluss als separate Folie auf einzelne Siebe belichtet. Das heißt beispielsweise: Acht Farben – acht Siebe – acht Druckvorgänge – acht Schichten.

Der Akt der künstlerischen Komposition selbst erweist sich schließlich trotz der im Vorfeld genauen Planung als ein schöpferisch-experimentelles Handeln und als Schaffensprozess, bei dem die Vorlagen schichtweise übereinander gedruckt werden.

Dabei legen sie sich nicht nur über den Hintergrund, sondern überlagern sich auch untereinander. Durch diese Schichtung, die Verdoppelung, den Austausch oder auch Weglassung entstehen gleichsam Interferenzvorgänge, wie man sie aus der Physik kennt, wo die Überlagerung von Schwingungen zu Phänomenen der Phasenverstärkungen oder Phasenauslöschung führt. 

Bildelemente werden verstärkt und verdichtet, andere wieder beinahe zum Verschwinden gebracht. Die Werke wachsen, bauen Spannung und Entspannung auf. Ihre Elemente strukturieren und dekonstruieren sich, generieren ästhetische wie inhaltliche Ebenen und verknüpfen sich zu vielschichtig bildimmanenten Bedeutungszusammenhängen.

Vielschichtigkeit als assoziative Dynamik

In Traglers neuen Werkblöcken lässt sich das Serielle ihrer Arbeitsweise anhand der sich wiederholenden Elemente leicht erkennen und dennoch angesichts der improvisatorischen, gleichsam nicht endenden wollenden Vielfalt kaum fassen. Zu sehr oszillieren ihre komplexen Bild-Systeme zwischen Wiedererkennung und Eigenständigkeit, changieren zwischen technischer und organischer Anmutung, zwischen Offenheit und Geschlossenheit und schwingen eindrucksvoll und bedeutsam zwischen abstrakten Ordnungsgefügen und vermeintlich gefügigen Ordnungen.

Ein exemplarisches Beispiel – das auch für jedes andere Kompositionselement gelten könnte, – ist ein gestisches Liniengebilde in Traglers Werkserie „Vibrations“, das ihre kompositorische Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit eindrücklich illustriert.

Es handelt sich dabei um eine dynamisch-expressive Linienverdichtung, die – digitalisiert und dennoch so haptisch-sinnlich als wäre sie mit Ölkreide oder Vergleichbarem ins Bild gesetzt – mit einer einzigen Ausnahme in allen acht Arbeiten der Serie wiederkehrt. Allerdings in immer neuen Variationen, Ausrichtungen, Verdoppelungen, verschiedenfarbigen Überlagerungen und Konstellationen zu anderen Gestaltungselementen.

Auf raffinierte Weise suggeriert diese Wiedererkennung dabei dem/der Betrachter:in eine Art trügerischen Verstehens. Ein „Aha-Erlebnis“, das sich dennoch und unmittelbar wieder verliert inmitten der permanent ästhetischen wie semantischen Wandlungen und Ver-Schichtungen, in denen sich das Liniengebilde wiederfindet oder von ihm evoziert wird.

GIMME SHELTER

Gimme Shelter. Gib mir Schutz. Gib mir einen Unterschlupf.
In dem für den Ausstellungstitel entlehnten Song der Rolling Stones heißt es unter anderem „war is just a shot away“ — Krieg ist nur ein Schuss entfernt — oder „a storm is threatening my very life today“ — ein Sturm bedroht heute unmittelbar mein Leben.

Textzeilen aus dem Jahr 1969, die traurigerweise aktueller kaum sein könnten in einer Zeit, in der stabil geglaubte, grundlegend liberale Werte und Sicherheiten unaufhaltsam — und in einem geradezu betäubenden Tempo — zu erodieren scheinen oder vorsätzlich zum Einsturz gebracht werden.

Nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor Stimmen, die zu beschwichtigen versuchen. 
+ Immerhin wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
+ Außerdem dürfe man die Resilienz der Menschen und liberalen Gesellschaften nicht unterschätzen.

Ich persönlich bin da – wie viele andere – offen gesagt pessimistischer, insofern die gegenwärtige Entwicklung in Kombination mit der geradezu imperialen Einflussmacht der neuen Technologien, eine ganz neue Dimension zu entfalten vermag.

Vor allem ideologisch im Dienste der sogenannten „neoreaktionären Bewegungen“ und deren programmatisch archaischen, antiaufklärerischen, antidemokratischen, antiegalitären, antiliberalen, wissenschafts-, kultur- und kunstfeindlichen sowie neofeudalen Agenda. Eine Agenda, die sie auch in die Tat umsetzen. Und das völlig ungeniert und geradezu lehrplanmäßig. Dazu genügt aktuell ein Blick auf die USA.

Die Hoffnung, dass wir gerade inmitten dieser Gemengelage heute angstloser oder wehrhafter als in früheren Zeiten sein sollten, drängt sich dabei — euphemistisch formuliert —nur zaghaft auf.

Gimme Shelter. Gib mir Schutz. Gib mir einen Unterschlupf.
Nicht weniger aktuell ist zwangsläufig auch der Ruf, der Wunsch, das Bedürfnis nach einem Rückzugsort, nach Sicherheit, nach Abgrenzung, nach Gegenwehr.

Und kaum etwas bietet seit jeher einen vergleichbaren Shelter des Rückzugs, der Widerstandsfähigkeit und gleichzeitig des Widerstands als die Resilienz künstlerischer Praxis und künstlerischen Ausdrucks.

Das trifft im Prinzip auf jede ernsthafte künstlerische Position zu, die nicht bloß oberflächlich die Zeichen des Künstlerischen imitiert und Themen versinnbildlicht.

Was die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler dabei im Besonderen auszeichnet, ist, dass in ihren Arbeiten zweierlei, für uns relevante Aspekte in Hinblick auf das Thema  — und der Möglichkeit  — eines Shelters vereinen:

1. Zum einen selbstverständlich, indem sie sich formal mit den Chiffren der Behausung und dem Raum auseinandersetzen, mit ihnen spielen, sie reduzieren oder weiterentwickeln.

2. Zum andern  — und gemäß des sehsaal-Jahresthemas „Wiederholung“ — indem sie sich repetitiver, künstlerischer Schaffensprozesse bedienen und damit intime Strukturen schaffen, mit denen sie sich und uns, sichere und geborgene Räume erzeugen und den sehsaal selbst in einen temporären Shelter verwandeln.
Und das mit ganz unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen, Medien und Bedeutungsebenen.

Insofern möchten wir die einzelnen Positionen aus unserer kuratorischen Sicht noch ganz kurz beleuchten.

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Jürgen Bauer beschäftigt sich bereits seit Jahren mit der Geometrie des Urbanen und der Architektur, wobei sein Schwerpunkt auf der einfachen Form eines Hauses mit Satteldach liegt. Zusammengesetzt ist es jeweils aus vier ganzen und zwei halben Quadraten, die er in scheinbar unendlichen Varianten und Wiederholungen zusammen und zueinander setzt — malerisch, zeichnerisch, druckgrafisch oder eben bildhauerisch.
Dabei wird das Haus als repetitiver Umriss nicht zuletzt zum Symbol für den Ursprung eines Rückzugsort, der dennoch durchgängig bleibt und wie hier, mittels einer Leiter gleichsam einen Spähposten zur Außenwelt bietet.

Für Katharina Fink zählt der Versuch, einer ständigen Reizüberflutung mit Einfachheit und der konzentrierten Wiederholung zu begegnen und sich auf diese Weise einen Rückzugsort aus Reduziertheit und maximaler Entschleunigung zu schaffen.
In ihrem formalen Weg der Entgrenzung der Zeichnung in den Raum, erzeugt sie durch die schiere Masse — ihr work -in progress-Werk hält derzeit bei 6000 schwarz gestrichenen Holzstäben — einen Nimbus der Möglichkeit eines Unterschlupfs und eines Szenarios, vorbereitet zu sein.

Das künstlerische Oeuvre von Thomas Laubenberger-Pletzer umfasst die Zeichnung in ihrer Vielfältigkeit der Einschränkung. Er verwendet ausschließlich Papier im Format A4, schwarzen Fineliner und die Linie als ursprüngliches, minimales und unmittelbares künstlerisches Ausdruckmittel, das auf dem weißen Hintergrund Räume schafft, sowie gleichermaßen umgekehrt dem Weiß des Zeichengrunds selbst einen Raum gibt. 
Durch die Konsequenz seines Arbeitens im Ausloten geometrischer Möglichkeiten, Strukturen und der sich logisch daraus ergebenden Variationen, erzeugt er Raster, Buchstaben und enigmatische Planzeichnungen, die das Formale und den Arbeitsprozess gleichsam zu Räumen und Rückzugsorten verschmelzen lassen.

Lisa Reiter versteht in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung Räume als etwas, die durch menschliche Interaktion geformt werden, während diese ihrerseits Interaktionen beeinflussen.
Im konkreten Fall hier, greifen ihre Arbeiten Form, Funktion und Rhythmus von Fenstervergitterungen, Zäunen oder Zauntoren auf und thematisieren diese als scheinbar durchlässige Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum.
Dabei betrachtet sie das Gitter freilich nicht nur als geometrische Anordnungen, die sich in ihrer formalen Grundstruktur wiederholen, sondern insbesondere auch in ihrer psychologisch motivischen und folglich künstlerisch-handwerklichen Wiederholung als Symbol von Besitz, Kontrolle und dem Wunsch, etwas — oder eben sich selbst — zu beschützen.

Die wechselseitige Interaktion steht auch im Zentrum des Arbeitens von Käthe Hager von Strobele — hier allerdings zwischen Natur und Architektur.
Beide begreift sie als Strukturen „normierter Unterschiedlichkeit“ oder auch „normierter Individualität“.
Während Pflanzen zwar einem biologischen Programm unterworfen sind, aber dennoch jeweils einzigartig Individuen hervorbringen, folgen Behausungen bestimmten grundlegenden konstruktiven Prinzipien, sind jedoch auch Ausdruck individueller Lebensweisen und Prägungen. In ihren Arbeiten kreuzt sie die beiden Bereiche, die auch sonst im Widerstreit von Natur und Kultur stehen.
Immer wieder aufs Neue versieht sie Pflanzenblätter durch Ritzung oder Faltung mit einer Hausform und fotografiert sie vor schwarzem Hintergrund im Stil botanischer Nachschlagewerke. Umgekehrt evoziert deren fortlaufende Inszenierung wiederum die Assoziationen eines Hauses und wirft die Frage auf, wieviel architektonische Rückzugsräume nötig sind oder sein dürfen, um unsere individuelle Natürlichkeit zu entfalten.

Barbara Höller – OR

Linien, Flächen, Farbe, Kontraste. In und mit ihren modularen Werksystemen und seriellen Rastern beweist Barbara Höller auf immer neue und überraschende Weise, dass sie es wie kaum ein/e andere/r Künstler:in beherrscht: Das spannungsvolle Spiel mit mathematischen Ordnungsprinzipien, optischen Wahrnehmungen und ästhetischen Minimalismen.

Womit wir auch schon beim Thema Spiel sind.

Jedes Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass es ein striktes Regelwerk hat. Wer hingegen die Regeln missachtet, ist ein/e Spielverderber:in. Barbara Höller bedient sich beidem. Zum einen der Regelmäßigkeit, zum anderen aber auch der künstlerischen Freiheit, die Regeln geheim zu halten oder nur anzudeuten.
In ihrer Werkzusammenstellung OR kommt dies auf dreierlei Ebenen zu Ausdruck, indem sie auf die Aspekte eines Brettspiels Bezug nimmt: Das Spielfeld, die Spielfiguren und deren Zugbewegungen.

FAIR OR SQUARE
In dieser Arbeitsserie lassen sich Felder erahnen, die bloß durch ihre Ecken definiert sind und sich, zueinander verschoben, überlagern. Dadurch entstehen zwar Areale und Leitlinien, die als Spielbrett gedeutet werden könnten, sowie Wege und Kreuzungen, die zu Sprüngen von Spielfiguren einladen, schließlich aber doch jede endgültige räumliche Verortung zugunsten der Freiheit der Platzierung verweigern. 

COMMON OR GARDEN besteht aus einem Satz simpler, einander gleichender quadratischer Kuben. Die monochromen gelben Körper sind jeweils mit einer Art Störung versehen, einer kontrastierenden dunklen Eckmarkierung, die sich bei identischer Ausrichtung zu einer Art statischen Behauptung zusammensetzen. Dennoch sind sie prinzipiell variabel und lassen sich- einem Satz von Spielsteinen gleich – drehen und in immer neue Konstellationen bringen. Welche Spielzüge aber sind erlaubt?

Diesen Aspekt greifen die Arbeiten der Werkgruppe FAKE OR TAPE auf und machen ihn zum Thema. Rein künstlerisch betrachtet spielt die breite Linie aus Papierklebeband mit der Täuschung, indem es die Grenze zwischen der Linie und dem Werk verwischt. Geht das Tape in den Bildkörper über? Oder ist es gar notwendig, das Werk zu fixieren?
Aus der Perspektive des Spiels wiederum deutet es die Richtung an, in welche die Spielfigur gezogen werden kann/darf und die sich je nach Drehung der Spielfigur ändert.

Das kulturanthropologische Modell des homo ludens – des spielenden Menschen – begreift diesen als Wesen, das seine kulturellen Fähigkeiten durch das Spiel entwickelt, seine Persönlichkeit entfaltet und im Spiel die Erfahrung wie Überschreitung äußerer Zwänge erfährt. In Barbara Höllers Arbeiten wird dies auf ganz besondere und künstlerisch eindrucksvolle Weise plastisch und erlebbar.

Mathias Pöschl – eine Werkeinführung

Walter Benjamin kritisierte einst in seinem bekannten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dass durch die Möglichkeit der massenhaften Vervielfältigung, das „kopierte“ Kunstwerk seiner Aura beraubt würde. Mathias Pöschl tritt mit seinem Kunstschaffen gleichsam den Gegenbeweis an, indem er eine Aura freilegt, die zum einen dem technischen Kopierverfahren innewohnt und zum anderen den daraus resultierenden Ausgangsmaterialien, die schließlich einer Manipulation unterzogen werden.

Dazu vervielfältigt er in einem ersten Schritt bestimmte Vorlagen auf handelsüblichen Kopiermaschinen im Copyshop immer und immer wieder. Diese unterliegen dabei einem fortlaufenden Prozess maschinell-technischer Veränderungen durch beispielsweise Tonermängel oder Kontrastunterschieden. Produktionsbedingte Strukturen also, die in einem zweiten Schritt mit in die Bildkompositionen übernommen werden, indem die kopierten Vorlagen auf Holzplatten kaschiert werden. „Copy und Paste“ im besten Sinne.

Schlussendlich erfolgt ein Vorgang, den Pöschl als negative malerische Eingriffe bezeichnet. Eine manuelle „Invasion“ tatsächlich invasive Eingriffe in das Material, in deren Folge er – im Gegensatz zu additiven Abläufen – die obersten Materialschichten wieder abträgt und das, was übrigbleibt zum eigentlichen Ausdruck wird.

Dabei durchläuft Pöschl einen Schaffensprozess der Wiederholungen in technischer, thematischer, formaler, serieller und reflexiver Hinsicht, sowie das Aufeinandertreffen und Ineinandergreifen von maschinell erzeugten Komponenten, manueller Intervention und konzeptueller Tiefe.

and so on and so forth

Die Einschränkung als Methode zur Entschränkung zeigt sich bei Christiane Reiter in Form von Arbeiten, die sich in und durch ihr Tun gleichsam selbst schaffen

Voraussetzung und Grundlage für Reiters künstlerisches Tun ist dabei ein ihr vorweg selbstauferlegter Handlungsrahmen aus Regeln und Vorgaben (Algorithmen), der die Künstlerin von ungewollten ästhetischen und ikonografischen Gestaltungsfragen befreit.

Alle Konzentration gilt der Handlung, der Verdichtung des Auftragens und dem Werk, das sich als Ergebnis und Ausdruck dieser Handlung zeigt. Das gilt auch für die Künstlerin selbst, die ihre Arbeit nie vollständig zu verstehen oder zu analysieren versucht, um sich und ihren Werken ein Geheimnis zu bewahren. Auf diese Weise scheinen die Arbeiten schweigend Erkenntnisaspekte auszusprechen, die dennoch notwendigerweise unausgesprochen bleiben müssen.

Ihre Regeln bezieht sie meist aus unmittelbaren Gegebenheiten, wie beispielsweise der Länge und dem Durchmesser der verwendeten Buntstifte oder der Größe des jeweiligen Formats und deren mathematischen Teilern, die sie mitunter auch mit Elementen der Wahrscheinlichkeitsrechnung und des Zufalls kombiniert.

Zur Ausführung gelangen die Algorithmen meist mittels Buntstiftes, den Christiane Reiter auf Papier oder Karton in minutiöser Handarbeit, Strich für Strich und Schicht für Schicht zu Farbflächen verdichtet. Insofern kann von Zeichnung nur im weitesten Sinn gesprochen werden, vielmehr ist es ein Be-zeichnen. In diesen kontemplativen Handlungsvollzügen ist die Künstlerin selbst ganz gegenwärtig und gleichzeitig auch weit weg. Ein Zustand, der sich auch unmittelbar auf die Wirkung der Arbeiten überträgt, die, gleichsam in Referenz auf den Aura-Begriff von Walter Benjamin als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag, im Akt des Zudeckens und zugleich Freilegens ihre Bedeutung beziehen.

So auch in ihrer aktuellen Werkserie and so on and so forth, die darüber hinaus mittels Tapezierung einzelner, aus ihren Arbeiten herausgelösten und vergrößerten geometrischen Strukturen eine Erweiterung in den Raum erfährt und zudem mit deren opulenten Musterung in einen kontrastierenden Dialog mit der formalen Strenge der Einzelwerke und Serialität tritt.

Wie einer Skizze in der Ausstellung zu entnehmen ist, bestand die

1. Ausgangsbasis darin, das Bildformat (80 x 80 cm) in einen Raster von 16 x 16 = 256 Quadrate zu unterteilen, von denen jeweils 2 Quadrate zu einer rechteckigen Einheit verbunden wurden.

2. Darüber, ob diese einzelnen Einheiten – die aneinandergereiht schließlich lückenlos die Fläche ausfüllen – vertikal oder horizontal ausgerichtet wurden, entschied ein theoretischer zweiseitiger Würfel. 1 bedeutete vertikal, 2 horizontal.

3. Danach galt es, den Einheiten eine von 3 ausgewählten Farben zuzuteilen.

Dies erfolgte erneut mittels eines – nunmehr dreiseitigen – Würfels. Jede Zahl entsprach einer Farbe.

4. Die weiteren Schritte bestanden in Folge in 3 Zooms, für die über den Mittelpunkt des jeweils vorangegangenen Werkes, ein Ausschnitt der halben Formatgröße (40 x 40 cm) herausgenommen und auf die Originalgröße vergrößert wurde.

5. Die Mutationen, die schlussendlich zu den immer 4-teiligen, hinsichtlich ihrer Farbkombination zusammengehörigen Serien führten, beruhte auf der Wiederholung der Regel ab Punkt 3, die zu immer neuen Strukturen führte.